Autorin Ava Kingsley
Bücher- Welt


Leseprobe

Sei ein böser Schmetterling

Die Zeit kann dein bester Freund oder dein ärgster Feind sein, je nachdem wie du sie genutzt hast.

Es gibt verschiedene Gründe plötzlich inne zu halten und eine gedankliche Reise in die Vergangenheit zu machen. Manchmal sind es Lebenskrisen, manchmal aber sind wir einfach nur alt geworden, und im schlimmsten Fall sind wir sehr krank. Immer wieder erhält man den Rat: schau nicht immer nach hinten oder schließe mit der Vergangenheit ab. Ich aber sage dir, es gibt immer einen triftigen Grund dafür, wenn wir eine Reise in die Vergangenheit machen. Gerade dann, wenn man in eine Lebenskris gerät, oder wenn sich dein Leben in einer gefühlten Dauerschleife befindet, liegt die Ursache irgendwo in der Vergangeheit. Eine falsch getroffene Lebenentscheidung. Eine falsche Sichtweise. Ein schlechter Start ins Leben. Vielleicht sogar ein Trauma. Du siehst, es macht durchaus Sinn, die Ursachen deiner aktuellen Situation zu ergründen. Tust du es nicht, dann wird alles bleiben wie es ist!

Bevor wir mit einer wunderschönen Reise beginnen, stell dir vor, du hättest nur noch eine begrenzte Zeit zu leben. Erinnere dich an deine Träume, ganz gleich wie fantastisch sie auch sein mögen, denn Träume sind nichts weiter als ungelebte Realitäten. Stell dir eine weitere Frage: bist du noch eben die gleiche Persönlichkeit, die du einmal warst, oder hat man dich in eine Form gepresst?  

Komm mit auf unsere Reise in eine Welt wie sie ist, und wie sie sein könnte!

Und wenn wir am Ende unserer gemeinsamen Reise angekommen sind, dann beginne deine eigene Reise!

Kapitel 1.

Eva startete den Wagen und fuhr los. Sie musste sich beeilen, denn es war sehr knapp und die Stadt würde sehr voll sein. Verbissen fragte sie sich, ob ihre Tochter wirklich länger arbeiten musste oder ob sie sich nur etwas Freizeit herausschlagen wollte. Und als ob sie es herbeigeführt hatte, fuhr sie soeben an ihrer Tochter vorbei, die mit einer Freundin ein Café betrat. Zwischen ihrer Erkenntnis und der roten Ampel lagen nur wenige Sekunden der Unachtsamkeit. Sie hörte noch ein Quietschen, ein Hupen und dann folgte ein entsetzlicher Knall. Ihr Kopf schlug ans Seitenfenster, dann auf das Lenkrad. Sie hatte sich weder in der Eile angeschnallt, noch hatte sie einen Seitenairbag. Sie spürte wie ihr das Blut heiß aus der Nase schoss, dann wurde es hektisch um sie herum. Ihre Augen waren halb geöffnet und sie erkannte durch einen Schleier, wie ein Mann ihre Fahrertür Aufriss und sie sachte herauszog. Sie hörte wie er einen Passanten anschrie, dass er einen Krankenwagen rufen solle. Sachte legte er sie auf den Boden und hielt seine Hand schützen unter ihren Kopf. Alles um sie herum verschwand langsam in einem trüben Licht, nur der Ersthelfer war ganz klar zu erkennen. Eva versuchte zu sprechen. Begriff, dass sie wohl einen Unfall hatte, aber sie stammelte nur leise. Der Fremde lächelte sie freundlich an. „Mein Name ist Gregor. Bleiben Sie ganz ruhig. Gleich kommt ein Krankenwagen und wenn Sie wollen, dann werde ich Sie ins Krankenhaus begleiten.“ Eva verdrehte die Augen. Übelkeit breitete sich in ihrem Bauch aus. Ihr Kopf dröhnte. Sie konnte kaum atmen, aber das Schlimmste für sie war: wer würde die Enkelkinder abholen. Dann wurde es dunkel um sie herum. Sie konnte noch deutlich hören, dass der Fremde sie hektisch aufforderte: „Bleiben Sie hier, nicht die Augen schließen!“ Kurz spürte sie noch ein Anheben, ein Rütteln, dann war alles ausgelöscht.  

Als der Krankenwagen eintraf, war Eva offensichtlich nicht mehr ansprechbar, aber sie hielt Gregors Hand immer noch fest. Während die andere Hand unter ihrem Kopf lag. Die Rettungskräfte übernahmen und schubsten Gregor fast zur Seite. Geschockt stand er aus der Hocke auf und blickte sich um. Erst jetzt sah er die Menschengruppe, die sich mittlerweile um ihn, und die Verunfallte aufgebaut hatte. Eine jüngere Frau kam lächelnd auf ihn zu. „Ich habe vorsorglich die Handtasche und das Handy aus dem Wagen der Frau geholt. Es gibt immer noch genug Idioten, die solch eine Gelegenheit nutzen, um zu stehlen.“ Bevor Gregor sagen konnte, dass er eigentlich nicht der richtige Ansprechpartner war, die persönlichen Dinge an sich zu nehmen, war die junge Frau auch schon auf und davon. Mit zitternden Händen öffnete er die Tasche und zog den Ausweis aus dem Geldbeutel. Eva Meinhard. Damit wurde aus einer ihm fremden Verletzten, plötzlich eine Persönlichkeit. Nun kannte er ihren Namen. Er hatte ihre Hand gehalten und ihr in die Augen gesehen, bis sie die Augen schloss. Er drehte sich wieder zu den Erstrettern um. Mittlerweile war ein Notarzt dazu gekommen. Gregor stand geschockt neben dem Geschehen und schrie plötzlich entnervt die Gaffer an: „Was klotzt ihr so, verschwindet!“ Tuschelnd drehte sich einer nach dem andern um. Eine Teenagerin filmte und Gregor schlug ihr das Handy aus der Hand. Bevor ein Tumult ausbrechen konnte, legte ein Polizist die Hand auf seine Schulter „Bleiben Sie ganz ruhig. Kennen Sie die Verunfallte?“ Gregor stand absolut neben sich und wie aus der Entfernung hörte er sich sagen: „Ja, es ist Eva Meinhard. Hier ist ihr Ausweis.“ „Können Sie etwas zu dem Unfallhergang sagen?“ „Nein!“ Der Polizist gab Gregor den Ausweis zurück und drehte sich zum Rettungswagen. „Kann er mitfahren?“ Bevor Gregor auch nur einen klaren Gedanken fassen konnte, saß er im Krankenwagen. Während einer der Rettungsmänner Eva versorgte und stabilisierte, forderte der zweite Mann nach ihren Personalien. Wortlos hielt ihm Gregor ihren Ausweis hin. Dann forderte er die Krankenkarte und Gregor öffnete das Fach des Geldbeutels und zog sie heraus. „Wie schlimm ist es?“ „Sie ist zurzeit stabil, aber genaueres wird Ihnen der Arzt später mitteilen. War sie angeschnallt?“ Gregor versuchte sich zu erinnern und antwortete zögernd: „Ich glaube nicht!“ Zynisch kommentierte sein Kollege: „Wie schade, dass es noch keine Anschnallpflicht gibt!“

Aus Kapitel 2.

Eva fühlte sich träge und öffnete die Augen. Wo war sie und was war passiert. Über ihr ragten Äste eines Baumes. Verwundert blickte sie sich um, während sie sich erhob. Sie lag auf einer Gartenliege, in einem, ihr fremden Garten. Angestrengt versuchte sie sich daran zu erinnern, wo sie zuletzt war. Mit beiden Händen drückte sie ihre Locken zurück. Nicht weit von ihr kauerte ein Mann in ihrem Alter und pflanzte Blumen um einen kleinen Baum. Neugierig ging sie in seine Richtung. „Entschuldigen Sie, wo bin ich hier?“ Ein freundliches Gesicht wandte sich ihr zu. Eva erkannte das Gesicht. Angestrengt versuchte sie sich zu erinnern woher. Der Fremde stand auf und lächelte sie an: „Du bist in meinem Garten. Unruhig drehte sich Eva in alle Richtungen. Weit und breit war nichts zu sehen, außer dieser Garten. Kein Zaun, kein Haus, keine Straße. Nichts.“ „Kennen wir uns? Ich meine Sie schon einmal gesehen zu haben.“ Der Fremde streckte ihr seine Hand entgegen, nachdem er den Gartenhandschuh abgestreift hatte. „Ich bin Gregor und ich habe dich vor kurzem aus deinem Auto gezogen. Erinnerst du dich nicht daran?“  

Eva kramte angestrengt in ihren Hirnwindungen und plötzlich waren Teile einer Erinnerung wieder da. Vor allem aber erinnerte sie sich daran, dass sie Gregors Gesicht gesehen hatte. Er beugte sich über sie und tröstete sie. Eva schaute verwirrt an sich herunter. Das waren nicht ihr Kleid und nicht ihre Schuhe. Auch ihre Haare, die sie sonst immer mit einer breiten Klammer nach hinten fixiert hatte, warfen wilde Lockenwirbel um ihr Gesicht. „Ich erinnere mich. Ich glaube ich hatte einen Unfall.“ Gregor lächelte nur, zog wieder seinen Handschuh über und setzte seine Arbeit fort. Eva ging neben Gregor in die Hocke. „Bin ich tot?“ Gregor setzte sich im Schneidersitz auf den Boden und legte die kleine Beet Schaufel neben sich. „Fühlst du dich tot?“ Eva setzte sich zu Gregor auf die Wiese. „Was für eine alberne Frage, als ob ich wüsste wie sich das anfühlt. Irgendetwas stimmt nicht. Das sind nicht meine Kleider und ich weiß auch nicht, wo ich bin. Es ist wie in einem Albtraum.“ „Drei Fragen: Fühlst du dich gut, hast du Angst, vermisst du etwas. Schnell antworten, nicht nachdenken!“ „Ja, eigentlich fühle ich mich sehr gut. Angst habe ich im Augenblick auch nicht und ob ich etwas vermisse? Ich glaube nicht!“ Gregor drückte die Erde um das letzte Pflänzchen, stand auf und reichte Eva die Hand zum Aufstehen. „Na dann ist es schon einmal kein Albtraum. Komm, lass uns ein Stück gehen und überlegen, was dich hierhergeführt hat.“

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Leseprobe

Die Achtsamkeit der kleinen Dinge

Die Leseprobe enthält eine Leseprobe aus einer Kurzgeschichte des Buches!

Die Berührung

Jule war sehr aufgeregt, als sie die große Eingangspforte erreichte. Auch dieses Mal war sie zehn Minuten zu früh – ein Überbleibsel aus ihrer Zeit im Heim für schwer erziehbare Kinder und Jugendliche. In welchem sie von ihrem 12. bis 18. Lebensjahr lebte. Wie sehr hatte Jule in dieser Lebensphase gegen alle Regeln verstoßen und sämtliche Energie dafür verwendet, diese bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu missachten. Jeder Regelbruch zog eine Konsequenz nach sich. Noch immer verkrampfte sich ihr Magen, wenn sie an diese Jahre zurückdachte.

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Die Eingangshalle wirkte warm und edel. Hier und da hing ein ansprechender Kunstdruck. Überall standen Blumensäulen, welche bequeme Sitzinseln vom Rest der Eingangszone abschirmten. Am anderen Ende der Eingangshalle thronte ein Tresen aus poliertem Kirschholz. Alles im Raum erinnerte an ein in die Jahre gekommenes Hotel. Es roch nach Bohnerwachs und der Boden glänzte matt. Hier und da saßen Senioren, welche sich mehr oder weniger an dem einen oder anderen Gespräch beteiligten. Neugierige Blicke trafen Jule. Nachdem sie auf jeden der neugierigen Blickkontakte mit einem warmen Lächeln reagierte, ging das Gemurmel entspannt weiter. Jule schaute vorbei an der Empfangstheke nach oben zu der breiten Freitreppe und der reich verzierten Stuckdecke, um dann ihre Aufmerksamkeit wieder dem Empfang zu widmen. Dahinter saß eine ältere Frau, die sie kühl über den Rand ihrer Lesebrille ansah. Jule stellte ihre kleine Handtasche auf den Tresen und zog eine Einladung hervor, welche sie mit einem freundlichen Guten Morgen der Empfangsdame überreichte. Nach einem prüfenden Blick auf die Karte forderte die resolute Empfangsdame den Neuankömmling auf, in die erste Etage zu gehen und dem Schild Heimleitung zu folgen. Sie sagte im forschen Ton, dass Jule bereits erwartet wird und gab sogleich Anweisungen: „Nutzen Sie bitte die Treppe dort, der Fahrstuhl steht ausschließlich den Senioren und deren Begleitung zur Verfügung!“ Jule nickte freundlich, nahm ihre Einladung an sich und stieg die niedrigen Holzstufen empor. Diese führten in einer herrschaftlich breiten Linkskurve an einem Tiffany-Fenster vorbei bis zur ersten Etage. Nun war Jule nur noch wenige Schritte vom Büro der Heimleitung entfernt. Als sie vor der schweren Holztür stand, zögerte sie anzuklopfen. In dem Moment, als sie sich entschied, der Tür doch lieber den Rücken zuzukehren, um wieder einmal davonzulaufen, wurde sie von einer freundlichen Männerstimme angesprochen. „Guten Morgen! Sie müssen Jule Meinhard sein. Kommen Sie doch bitte herein.“ Jule erwiderte den festen Händedruck und schob sich an dem Fremden vorbei in dessen geschmackvoll eingerichtetes Büro. Vor ihr stand nun ein junger Mann, kaum älter als sie selbst, der offensichtlich etwas aus seinem Leben gemacht hatte. Höflich führte er sie vorbei am Schreibtisch zu einer komfortablen Sitzecke und bot ihr einen Platz an. Nachdem die üblichen Höflichkeiten, wie das Anbieten einer Erfrischung, von Jule dankend abgelehnt wurde, kam der Heimleiter auch gleich zu Sache: „Mein Name ist Johannes von Wiebel und sie befinden sich im alten Wohnsitz meiner Urgroßeltern und Großeltern. Vor 25 Jahren haben meine Eltern in dem Familiensitz eine Seniorenresidenz eröffnet. Seitdem wird ein Großteil des Anwesens ausschließlich zu diesem Zweck genutzt. Nachdem sich meine Eltern aus dem Berufsleben zurückzogen, wurde das Haus mehr schlecht als recht von einer Pflegeleitung weitergeführt. Vor einem halben Jahr habe ich die Leitung übernommen. Ich muss gestehen, ich weiß nicht genau, wie ich diese Verantwortung im Sinne meiner Eltern tragen soll. Was ich aber sicher weiß, ist, dass sich hier grundlegende Dinge ändern müssen. Dieses Haus hatte über Jahrzehnte einen tadellosen Ruf, welcher unter meiner Vorgängerschaft sehr leiden musste. Meine Aufgabe besteht nun darin, wieder die Qualität herzustellen, die wir unseren Bewohnern einmal versprochen hatten.“ Jule folgte aufmerksam den Ausführungen und war geradezu überwältigt, wie selbstsicher und stark dieser junge Mann auf sie wirkte. Sie schätzte, dass er nicht älter als 33 Jahre sein konnte. Er unterschied sich von allen anderen Männern, die sie bis dahin kennenlernte. „Ein Kunststück“, sagte sie zu sich selbst, „er stammt ja auch aus einem alten Hochadel, war sicher im teuersten Internat und hatte bislang alle Vorteile seines Standes genießen können.“ Jule spürte, wie sich Zorn in ihr ausbreitete wie ein Strohfeuer. Verstohlen blickte sie sich im Büro um und erkannte schlagartig, wie unterschiedlich doch ihre beiden Welten waren: Während sie die meiste Zeit ihres Lebens verschlief, saß er in einer wichtigen Position. Woran lag das? An ihrer alleinerziehenden Mutter, welche zwischen drei Putzstellen kaum Zeit und Muße hatte, ihr Kind auf einen besseren Weg zu bringen? An ihrem Vater, der sich irgendwann einmal mit seiner Kollegin aus dem Staub machte und nicht einen Tag Unterhalt zahlte? Lag es an Jules erstem Freund, der sie mit Drogen und kriminellen Aktivitäten konfrontierte? Oder war es die Schuld des Heimes, in dem sie sich so einsam fühlte, als lebe sie auf einem fernen Planeten?

Johannes hatte ihre geistige Abwesenheit bemerkt und stand auf. „Ich weiß nicht, wo Sie sich gerade gedanklich befinden – sicher nicht bei unserem Gespräch!“ Jule zuckte zusammen. Unsicher stand sie ebenfalls auf und dachte, dass er sie nach diesem Fauxpas höflich zur Tür bitten und das Vorstellungsgespräch beenden würde. Aber es kam anders. Er nahm sie beim Arm, führte sie aus dem Büro und sagte dabei: „Ich weiß, wie erschlagend das alles hier auf Sie wirken muss. Es geht mir nach all den Jahren ebenso. Nichts von alldem gehört mir. Innerhalb meiner Familie gibt es nichts geschenkt, ma muss sich alles verdienen. Ich habe mich in den letzten Jahren nicht gerade mit Ruhm besudelt und es ist eine große Chance für mich, meinen Eltern zu beweisen, dass ich mich geändert habe.“ Irritiert schaute Jule Johannes von der Seite an, der sie unbeirrt die Treppe nach unten begleitete und mit ihr quer durch das Haus zum Hinterausgang ging. Ganz selbstverständlich hakte er ihren Unterarm um den seinen. Er führte sie, als sei sie eine Seniorin. Da er zusätzlich seine andere Hand auf ihre legte, ließ sie sich führen und entzog sich nicht der vertrauten Geste. Als beide das herrschaftliche Gebäude verließen, eröffnete sich Jule ein unbeschreiblich harmonisches Bild aus. Ein Garten wie aus einem Rosamunde-Pilcher-Roman. Geradeaus befand sich in einer Entfernung von ungefähr 300 Metern ein weißes, schmiedeeisernes Teehaus. Überall standen alte Pappeln und Buchsbaumsträucher, welche das Anwesen in kleine Themengärten unterteilten. Wie eine graue Schlange schlängelte sich ein Kiesweg durch den ganzen Garten und lud zum Flanieren ein. Am anderen Ende lag ein kleiner Teich mit Seerosen, umringt von tiefen Bänken. Eine Boule-Bahn und ein Schachbrett komplettierten das Ensemble. Jule wähnte sich in einer anderen Welt. „Na, gefällt Ihnen der Garten?“ Jule ließ verzückt ihren Blick schweifen und antwortete, während sie zaghaft ihren Arm entzog: „Wenn es einen Ort gäbe, der durch und durch für das Gefühl der Ruhe und Harmonie stünde, dann sähe er so aus wie dieser Garten.“ Sie versank in das Gefühl der Ruhe und bemerkte gar nicht, wie Johannes sie lächelnd ansah. Sie genoss den Augenblick, während beide schwiegen. Nach einer Weile schaute Jule den Heimleiter in fester Überzeugung an, dass sie auf ihn sicherlich nicht den Eindruck einer zukünftigen und arbeitsfähigen Angestellten machen würde. Wieder versank sie in ihre Traumwelten. Johannes aber schien dies nicht weiter zu stören. Er ergriff lächelnd ihre Hand und zog sie zu einer alten Pappel. Dort saß ein älterer Herr und las. Fast im Laufschritt verließen sie den Kiesweg und nahmen eine Abkürzung über den gepflegten Rasen, bis sie atemlos vor der Bank ankamen. Der Lesende blickte mürrisch empor, legte sein Buch auf den Schoß, während er Jule abschätzig beäugte. „Ist das die Neue?“ Johannes schob Jule vor sich, als solle sie sich vorstellen. Aber sie spürte die ablehnende Haltung des alten Mannes. Jule sah ihn unfreundlich an, um dann wieder einmal aus der Rolle zu fallen. „Sind Sie der Alte?“ Hinter ihr ertönte ein unterdrücktes Glucksen, das von Johannes kam. Jule drehte sich kurz zu ihm um und sah, dass er versuchte, Haltung zu bewahren. „Wenigstens bekommt sie den Mund auf, aber lange wird sie es auch nicht machen!“ Nun spürte Jule ihren alten Drang, ins Wortgefecht zu wechseln. Ungebremst donnerte es aus ihr heraus: „Angesichts Ihres hohen Alters wird sich bestimmt herausstellen, wer es von uns beiden länger machen wird!“ Totenstille, als seien Wind und Vogelgesang zu Eis erstarrt. Jule hätte sich ohrfeigen können, denn genau das war der Grund, warum sie ins Heim kam, von der Schule flog, die Lehre abgebrochen hatte und bei jeder Vorstellung durchfiel. Der Alte fixierte sie mit seinem Blick. Seine Brille hing so tief, dass man befürchten musste, sie würde ihm gleich von der derben Nase rutschen. Dann tat Jule etwas, was durchaus jeden Beobachter dieser Szenerie in Staunen versetzen musste: Sie schob die Brille an die richtige Stelle der Nasenwurzel und setzte sich unaufgefordert neben den Heimbewohner. Johannes sah indes interessiert zu und sagte kein Wort. Im Gegenteil, fast unbemerkt ging er langsam einige Schritte zurück, entfernte sich somit aus dem direkten Sichtfeld der beiden. Nach einigen Minuten der Stille ergriff Jule wieder das Wort, ohne den Alten anzusehen: „Waren Sie schon immer ein so unleidlicher Geselle?“ Der Alte starrte weiter stur vor sich hin. Dann räusperte er sich, schob seine Brille in Richtung Nasenspitze zurück und antwortete: „Ja, war ich, bin ich und werde es auch immer sein. Bis mich der Teufel holt! Was dagegen?“ Jule antwortete: „Nein, ich möchte nur wissen, mit wem ich es zu tun haben werde. Wenn Sie es akzeptieren, dass ich vom gleichen Kaliber bin, werden wir viel Spaß beim Diskutieren und Streiten haben!“ Jule wandte sich dem alten Herrn zu und streckte ihre Hand aus. „Ich heiße Jule!“ Der Alte nahm ihre Hand und erwiderte grinsend: „Auf ein gutes Gefecht, Jule, Sie gefallen mir. Mein Name ist Professor Winter. Sie können Professor zu mir sagen!“ Jule konterte mit funkelnden Augen: „Ich nenne Sie General, damit ich nie vergesse, mit wem ich es zu tun habe!“ Dann stand sie auf. Suchend drehte sie sich zu Johannes um. Er hatte es sich mittlerweile auf einem Stein bequem gemacht. Etwas beschämt ging Jule zu ihm. Johannes stand auf und empfing sie mit einem anerkennenden Blick: „Die erste Prüfung haben Sie mit Bravour bestanden. Keiner konnte es bisher mit diesem Griesgram aufnehmen!“ Erbost konterte Jule: „Das ist kein Griesgram! Er verstellt sich nur nicht, ist authentisch. Ich mag authentische und ehrliche Menschen.“ Johannes hob eine Augenbraue an und schwieg, während sie beide den kleinen Teich anvisierten.

Der Malerin schaute sie mittlerweile nicht nur beim Malen über die Schulter. Sie hatte sich eine Staffelei danebengestellt und eiferte ihr nach. Mehr und mehr zeigte sich, dass Jule Talente besaß, von denen sie bislang nichts wusste. Die stille Anerkennung der Malerin, welche sie meist über ein gütiges Lächeln zum Ausdruck brachte, wurde zuweilen um ein zaghaftes Streicheln über Jules rote Locken ergänzt. Es war für sie ein befremdliches Gefühl. Jule konnte sich nicht daran erinnern, wann sie zum letzten Mal eine solche Liebkosung erhalten hatte. Als Frau Böhme eines Tages wieder einmal über Jules Kopf streichelte, schaute sie der alten Dame in die Augen und hielt deren Hand so fest, dass sie ihre Hand auf dem Haupt der jungen Frau ruhen ließ. Beide hielten einen Augenblick inne. Jule nahm die Hand und führte sie an ihre Wange. Unaufgefordert legte die Malerin ihre zweite Hand auf die andere Wange. So umfasste sie Jules Gesicht wie das Gesicht eines traurigen Kindes, welches Trost und Wärme suchte. Jule liefen Tränen über die Wangen. Die alten Hände, gleichsam wie ein Damm, hielten dem Tränenfluss stand. Dann rückte Jule näher an Frau Böhme heran und umarmte sie. Anfangs hingen die Arme der alten Dame noch schwer an ihrem Körper herab. Aber als Jule die Liebkosung nicht zu lösen suchte, erwiderte sie die innige Geste. Beide verweilten minutenlang in fester Umarmung. Immer mehr löste sich die Spannung aus dem alten und aus dem jungen Körper. Bald schon ruhte Jules Wange auf Frau Böhmes rechter Schulter und die Wange der Malerin auf Jules linker Schulter. Beide weinten still, jede für sich. Jule, weil sie sich erinnerte, wie oft ihre Mutter sie so zu umarmen versuchte und sie sich gegen die Annäherung zornig sträubte. Die Malerin, weil sie die letzte Umarmung ihrer Tochter, die sie ohne ihr Einverständnis in die Seniorenresidenz brachte, im Zorn nicht erwidern konnte. Damals wollte die Tochter mit ihrem Mann nach Italien ziehen. Frau Böhme wollte aber nicht folgen. Ohne ein Wort des Abschieds hatte sie ihrer Tochter den Rücken gekehrt und sich mit ihrer Entscheidung abgefunden. Keine Umarmung, kein Wort der Versöhnung, nur endloses Schweigen bis zu diesem Tag. Jule schluchzte und mit geschlossenen Augen begann sie zu flüstern: „Es tut mir so unendlich leid, Mama. Ich habe dich so sehr verletzt und war so voller Zorn, dass Papa fortging. Und wütend darüber, dass ich es ihm nicht mehr sagen konnte. Aber du warst immer da, wenn mich der Zorn und die Sehnsucht zerrissen haben. Du warst da, wenn das Geld nicht mehr für neue Sachen reichte, weil Papa keinen Unterhalt zahlte. Du hast dich abgerackert, um mir jeden Wunsch zu erfüllen, bis du mit 45 Jahren keine Kraft mehr und mich einfach im Stich gelassen hattest. Ich rief nach dir, aber du hast nicht mehr geantwortet. Du bist eingeschlafen und wachtest nicht mehr auf. Seither hat mich niemand mehr umarmt.“ Frau Böhme drückte Jule noch fester an sich, als müsse sie sie vor einem tiefen Fall bewahren. Sie hielt mit einer Hand Jules Kopf und flüsterte ihr ins Ohr: „Verzeih mir, dass ich mich nicht von dir verabschiedet habe. Eine Mutter lässt ihr Kind niemals so gehen, so unversöhnlich, so lieblos.